Abschied

 

Jimmy saß still da.

Abwesend studierte er die Liste in seinen Händen und versuchte, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Aber er schaffte es einfach nicht. Der Dienstplan für die Junker bei der Nachmittagsprozession war fertig, oder zumindest so gut wie. Jimmy fühlte in sich eine Leere, und die Entscheidungen darüber, welcher Junker auf welchem Posten stehen sollte, erschienen ihm einfach nur unwichtig.

Seit zwei Wochen kämpfte Jimmy gegen dieses Gefühl, in einem schrecklichen Traum gefangen zu sein, in einem, den er nicht abschütteln konnte. Nichts in seinem bisherigen Leben hatte ihn so tief getroffen wie der Mord an Arutha, und er konnte sich noch immer nicht damit abfinden. Nachts schlief er mehr als sonst, als stelle der Schlaf eine Zuflucht dar, und wenn er erwachte, war er nervös und begierig darauf, etwas zu tun, als würde ihn Beschäftigung von seinem Kummer ablenken. Er verdrängte den Gram und wollte sich später damit auseinandersetzen.

Jimmy seufzte. Eines wußte der junge Mann jedenfalls: die Vorbereitungen für das Begräbnis nahmen verdammt viel Zeit in Anspruch. Laurie und Volney hatten den Aufbruch der Begräbnisprozession inzwischen schon zweimal verschoben. Die Bahre war bereits zwei Tage nach Aruthas Tod auf den Wagen gestellt worden, wo sie auf den Leichnam wartete. Der Tradition nach sollte sich die Prozession mit dem Prinzen innerhalb von drei Tagen nach Rillanon zur Familiengruft aufmachen, doch Anita hatte schon Tage gebraucht, um vom Besitz ihrer Mutter zurückzukehren. Dann mußte sie auf die anderen Adeligen warten, und im Palast herrschte ein großes Durcheinander, und so fort. Trotzdem, wußte Jimmy, würde er über diese Tragödie nicht hinwegkommen, ehe Arutha nicht fortgebracht worden war. Es war ihm einfach zu viel: Da lag der Leichnam nun in einer provisorischen Gruft, gar nicht weit von dem Ort, an dem der Junker jetzt saß. Er rieb sich die Augen, senkte den Kopf, und einmal mehr konnte er die Tränen nicht zurückhalten. In seinem bisherigen kurzen Leben hatte Jimmy nur einen einzigen Mann kennengelernt, der ihn so beeindruckt hatte. Arutha wäre eigentlich der letzte gewesen, der sich um das Schicksal eines jugendlichen Diebes hätte scheren müssen, doch er hatte es getan. Er hatte sich als wahrer Freund herausgestellt, und nicht nur das. Er und Anita waren für Jimmy fast wie eine Familie gewesen, eine Familie, die er nie gehabt hatte.

Als es an der Tür klopfte, riß er den Kopf hoch und sah Locklear auf der Schwelle stehen. Jimmy winkte ihn herein, und der jüngere Junker setzte sich an die andere Seite des Schreibtisches. Jimmy schob ihm das Pergament zu. »Hier, Locky, mach du weiter.«

Locklear überflog die Liste und nahm die Feder aus dem Halter. »Ist ja schon fast alles fertig, nur Paul liegt mit Blutandrang darnieder, und der Arzt möchte ihn ein paar Tage im Bett behalten. Er braucht Ruhe. Hast aber ganz schön gekritzelt. Ich glaube, ich schreibe alles noch einmal ab.«

Jimmy nickte abwesend. Manchmal verspürte er trotz der tiefen Trauer eine seltsame Verärgerung. Seit drei Tagen nagte etwas in dem jungen Mann. Alle im Palast waren noch immer entsetzt über den Tod von Arutha, doch gelegentlich machte schon jemand ein falsche Bemerkung oder tat etwas, das nicht in die allgemeine Stimmung paßte. Jimmy hätte nicht genau sagen können, ob das überhaupt wichtig war. In Gedanken zuckte er mit den Schultern und schob seine Sorgen beiseite. Verschiedene Leute reagierten eben verschieden auf eine Tragödie. Manche, wie Volney und Gardan, vergruben sich in Arbeit. Andere, wie Carline, zogen sich zurück, um im Privaten zu trauern. Herzog Laurie benahm sich in etwa so wie Jimmy. Er verdrängte seinen Gram, doch irgendwann überkam er ihn doch. Plötzlich verstand Jimmy, was er so seltsam fand. Laurie war die ganze Zeit - von dem Moment an, als Arutha verwundet worden war, bis vor vielleicht drei Tagen - aufgeregt im Palast herumgelaufen. Jetzt war er fast ständig abwesend.

Er sah Locklear dabei zu, wie er den Dienstplan abschrieb, und sagte: »Locky, hast du in letzter Zeit mal Herzog Laurie gesehen?«

Locklear blickte nicht von seiner Arbeit auf und antwortete: »Heute morgen, ganz früh. Ich mußte den ganzen adligen Besuchern ihr Frühstück bringen, und da habe ich ihn aus dem Tor reiten sehen.« Er hob den Kopf, und auf seinem Gesicht zeichnete sich ein befremdlicher Ausdruck ab. »Er ritt durch die Seitenpforte.«

»Warum verläßt er den Palast durch die Seitenpforte?« fragte Jimmy.

Locklear zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Dienstplan zu. »Vielleicht führt die in die Richtung, in die er wollte.«

Jimmy dachte nach. Welchen Grund konnte der Herzog von Salador haben, am Morgen der Begräbnisprozession ins Armenviertel zu reiten? Jimmy seufzte. »Ich werde noch ausgesprochen mißtrauisch auf meine alten Tage.«

Locklear lachte - das erste fröhliche Geräusch im Palast seit Tagen. Dann, als würde ihm die Sündhaftigkeit seines Tuns klar, sah er schuldbewußt auf.

Jimmy erhob sich. »Fertig?«

Locklear reichte ihm das Pergament. »Fertig.«

»Gut«, sagte Jimmy. »Dann laß uns lieber losgehen, denn deLacy wird sicher nicht gut darauf zu sprechen sein, wenn wir heute zu spät kommen.«

Sie eilten in den Saal, in dem sich die Junker immer versammelten. An diesem Tag unterblieben wegen des ernsten Anlasses die gewohnten Rangeleien und das fröhliche Geflüster. DeLacy traf ein paar Minuten nach Jimmy und Locklear ein und sagte ohne weitere Einleitung: »Den Dienstplan.« Jimmy überreichte ihn, und deLacy sah ihn durch. »Gut, obwohl die Schrift verrät, daß Ihr Hilfe hattet.« Durch die versammelten Jungen ging ein Raunen, doch keiner zeigte seine Schadenfreude offen. DeLacy sagte: »Eine Sache werde ich dennoch ändern. Harold und Bryce werden den Prinzessinnen Anita und Alicia als persönliche Diener zur Seite stehen. James und Locklear werden beim fürstlichen Haushofmeister hier im Palast bleiben.«

Jimmy war wie vor den Kopf geschlagen. Er und Locklear würden nicht bei der Prozession dabeisein. Sie würden sich im Palast für den Haushofmeister in Bereitschaft halten, falls kleinere Probleme auftauchten, die die Anwesenheit eines Junkers erforderten.

Abwesend las deLacy den Rest des Dienstplans laut vor, dann ließ er die Jungen allein. Locklear und Jimmy wechselten einen Blick, und dann holte Jimmy den davonschreitenden Zeremonienmeister ein. »Sir ...« setzte Jimmy an.

DeLacy wandte sich Jimmy zu. »Wenn es um die Verteilung der Aufgaben geht, gibt es keine weitere Debatte.«

Jimmy errötete vor Zorn. »Aber ich war der Junker des Prinzen«, entgegnete er hitzig.

Und mit ungewohnter Beherztheit platzte Locklear heraus: »Und ich war der Junker Ihrer Hoheit der Prinzessin.« DeLacy sah die jüngeren Junker erstaunt an. »Ja, doch ...«, gab er zu.

»Das ist nicht von Belang«, sagte deLacy dann. »Ich habe meine Befehle. Und Ihr müßt den Euren folgen. Das ist alles.« Jimmy wollte erneut protestieren, doch der alte Zeremonienmeister fuhr ihm über den Mund. »Das ist alles, Junker.«

Jimmy wandte sich ab und ging davon. Locklear gesellte sich an seine Seite. »Ich weiß nicht, was hier los ist«, meinte Jimmy, »aber ich werde es herausfinden. Also los.«

 

Jimmy und Locklear eilten durch den Palast und hielten die Augen offen. Ein Befehl von einem höheren Mitglied des Hofes würde ihren unerwarteten Besuch verhindern, also waren sie bemüht, sich den Blicken derer zu entziehen, die sie womöglich mit irgendwelchen Besorgungen beauftragten. Die Begräbnisprozession würde sich in weniger als zwei Stunden auf den Weg begeben, und für zwei Junker, die nichts zu tun hatten, blieb noch jede Menge Arbeit. Hatte die Prozession begonnen, würde sie zunächst langsam durch die Stadt ziehen und auf dem Tempelplatz halten, wo ein öffentliches Gebet stattfinden sollte. Danach würde sie die lange Reise nach Rillanon zur Gruft von Aruthas Vorfahren antreten. Sobald der Begräbniszug die Stadt verlassen hatte, würden die Junker in den Palast zurückkehren. Doch Jimmy und Locklear hatte man selbst diesen kurzen Teil der Prozession versagt.

Jimmy erreichte die Tür der Prinzessin und sagte zu der Wache davor: »Wenn Ihre Hoheit vielleicht einen Moment Zeit für mich hätte?«

Die Wache zog die Augenbrauen hoch, doch in seiner Stellung durfte er keinem, egal wie niedrigen Mitglied des Hofes Fragen stellen, daher gab er die Nachricht einfach nach drinnen weiter. Als die Wache die Tür öffnete, vermeinte Jimmy etwas zu hören, das hier nicht am richtigen Platz war. Es verstummte jedoch, ehe er genau wußte, weshalb. Jimmy überlegte, was ihn an dem gerade Gehörten so gestört hatte, doch die Rückkehr der Wache unterbrach seine Gedanken. Einen Moment später wurden er und Locklear eingelassen.

Carline saß mit Anita in der Nähe des Fensters, beide warteten auf das Zeichen, das sie zum Begräbniszug rufen würde. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich leise Die Prinzessinmutter Alicia stand neben ihrer Tochter. Alle drei waren in Schwarz gekleidet. Jimmy trat näher und verbeugte sich Locklear blieb an seiner Seite. »Entschuldigt die Störung, Hoheit«, flüsterte er fast.

Anita lächelte ihn an. »Du störst doch nie, Jimmy. Was gibt es denn?«

Plötzlich empfand er seinen Ärger über den Ausschluß vorn Begräbnis als so unwichtig. »Eigentlich nur eine kleine Sache. Ich habe den Befehl bekommen, heute im Palast zu bleiben, und ich habe mich nur gefragt... also, habt Ihr veranlaßt, daß ich hier bleiben soll?«

Carline warf Anita einen Blick zu, und die Prinzessin von Krondor sagte: »Nein, das habe ich nicht, Jimmy.« Ihre Stimme klang nachdenklich. »Aber vielleicht Graf Volney Du bist der Erste Junker, und du sollst wohl am Hof bleiben, zumindest scheint der Graf das so entschieden zu haben.«

Jimmy betrachtete ihr Gesicht. Irgend etwas stimmte nicht. Prinzessin Anita war vom Besitz ihrer Mutter zurückgekehrt und hatte wie erwartet Trauerkleidung getragen. Doch schon bald hatte sie eine gewisse Veränderung gezeigt. Das Gespräch wurde durch das Geschrei eines der Säuglinge unterbrochen, und bald darauf schrie auch der zweite. Anita erhob sich. »Nie ist es nur einer«, sagte sie liebevoll seufzend. Auf die Bemerkung hin lächelte Carline, setzte jedoch gleich wieder eine traurige Miene auf.

Jimmy sagte: »Wir haben Euch wegen einer Lappalie gestört, Hoheit, und ich bitte, das zu entschuldigen.«

Locklear folgte Jimmy nach draußen. Als sie außer Hörweite der Wache waren, sagte Jimmy: »Habe ich irgend etwas nicht richtig mitbekommen, Locky?«

Locklear drehte sich um und starrte einen Augenblick lang auf die Tür. »Etwas ist ... seltsam. Es ist, als sollten wir irgendwie aus dem Weg geräumt werden.«

Jimmy dachte einen Moment nach. Jetzt wußte er, was ihm aufgefallen war, als die Wache die Tür geöffnet hatte und in die Gemächer der Prinzessin eingetreten war. Es waren die Stimmen gewesen: Sie hatten schwatzend und neckend geklungen. Jimmy meinte: »Langsam glaube ich, du hast recht. Komm. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Zeit wofür?«

»Wirst du schon sehen.« Jimmy eilte den Gang entlang, und der jüngere Junker mußte sich anstrengen, um Schritt zu halten.

 

Gardan und Volney eilten, von vier Wachen begleitet, Richtung Hof, als die Jungen ihnen in den Weg traten. Der Graf hatte kaum einen Blick für die beiden übrig. »Werdet Ihr zwei nicht auf dem Hof erwartet?«

»Nein, Sir, wir wurden dem Haushofmeister zum Dienst zugeteilt.«

Gardan schien überrascht zu sein, doch Volney sagte nur: »Dann solltet Ihr Euch schleunigst dorthin begeben, falls Ihr dort gebraucht werdet. Wir müssen mit der Prozession beginnen.«

»Sir«, fragte Jimmy, »habt Ihr angeordnet, daß wir hier bleiben sollen?«

Volney machte eine Handbewegung. »Diese Details hat Herzog Laurie mit Zeremonienmeister deLaey abgesprochen.« Er wandte sich von den Jungen ab und ging mit Gardan davon.

Jimmy und Locklear blieben stehen, nachdem der Graf und der Marschall hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, während die Stiefel ihrer Eskorte noch laut vernehmlich über die Steine klackerten. »Ich glaube, ich verstehe langsam«, meinte Jimmy. Er faßte Locklear am Arm. »Komm.«

Mit niedergeschlagener Stimme fragte Locklear: »Wohin?«

»Wirst du schon sehen!« kam als Antwort. Jimmy rannte los. Locklear lief ihm hinterher und äffte ihn nach. »Wirst du schon sehen. Was werde ich schon sehen, zum Teufel?«

Die Wachen standen auf ihrem Posten. Die eine fragte: »Und wo wollt ihr beiden jungen Gentlemen hin?«

»Hafenbehörde«, meinte Jimmy unwirsch und reichte dem Mann einen offensichtlich hastig geschriebenen Befehl. »Der Haushofmeister kann ein bestimmtes Schiffsmanifest nicht finden, und jetzt ist er wie wild hinter einer Abschrift her.« Jimmy war richtiggehend gedrängt worden, diesen Auftrag sofort zu erledigen. Es schien ihm allerdings nicht gerade der passende Augenblick zu sein, um hinter einem Schiffsmanifest herzulaufen.

Die Wache schaute sich das Papier an und sagte: »Nur einen Moment.« Er gab einem anderen Soldaten, der in der Nähe der Amtsstube der Wachen stand, ein Zeichen. Der andere kam heran, und der erste fragte: »Hast du vielleicht ein bißchen Zeit, um mit diesen beiden Kerlen runter zum Hafen zu gehen? Sie müssen dort etwas für den Haushofmeister holen.«

Die andere Wache wirkte unentschlossen. Der Weg hin und zurück würde allerdings weniger als eine Stunde dauern. Er nickte, und schon waren die drei unterwegs.

Zwanzig Minuten später stand Jimmy in der Hafenbehörde und verhandelte mit einem kleinen Beamten, der als einziger Dienst tat, während alle anderen an der Prozession teilnahmen. Der Mann grummelte, während er sich durch einen Stapel Papier wühlte und nach dem letzten Schiffsmanifest des fürstlichen Hafens suchte. Derweil warf Jimmy einen Blick auf ein Blatt, das für alle sichtbar an der Wand der Amtsstube hing. Es war der Abfahrtsplan der Schiffe für diese Woche. Sein Blick blieb an etwas hängen, und er ging zu dem Plan und sah ihn sich genauer an. Locklear folgte ihm. »Was ist?« Jimmy zeigte darauf »Interessant, nicht?« Locklear sah sich den Plan an und fragte: »Warum?«

»Ich weiß noch nicht genau«, entgegnete Jimmy und senkte die Stimme. »Aber denk mal einen Moment über das nach, was im Palast vor sich geht. Wir dürfen nicht mit zur Prozession, und dann fragen wir die Prinzessin danach. Kaum sind wir aus ihrem Zimmer, werden mit diesem sinnlosen Auftrag fortgeschickt. Du hast selbst gesagt, es sieht aus, als sollten wir aus dem Weg geschafft werden. Irgend etwas ist ... ziemlich seltsam.«

Der Beamte hatte das Schiffsmanifest gefunden und reichte ihnen das verlangte Papier, und die Wache begleitete die beiden zum Palast zurück. Als sie an der Torwache vorbei waren, machten sie ihrem Begleiter eine abwesende Handbewegung und gingen dann direkt zum Zimmer des Haushofmeisters.

Sie erreichten sein Büro gerade, als der Haushofmeister, Baron Giles, es verlassen wollte. »Da seid Ihr ja endlich«, meinte er vorwurfsvoll. »Ich dachte schon, ich müßte Wachen losschicken, die Euch suchen und dort aufstöbern, wo ihr gerade wieder herumfaulenzt.« Jimmy und Locklear warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Der Haushofmeister schien das Manifest vollkommen vergessen zu haben. Jimmy übergab es ihm.

»Was ist das?« Er betrachtete das Papier. »Ach, ja«, bemerkte er und legte das Blatt auf seinen Schreibtisch. »Ich werde mich später darum kümmern. Ich hätte schon längst unterwegs sein müssen, wenn ich den Abmarsch der Prozession sehen will. Ihr bleibt hier. Sollte es irgend etwas Wichtiges geben, bleibt der eine von Euch hier im Büro, während der andere mich suchen geht, wenn die Bahre durch die Tore ist, komme ich zurück.«

»Erwartet Ihr irgendwelche Probleme, Sir?« fragte Jimmy Indem er an den Jungen vorbeiging, sagte der Haushofmeister: »Natürlich nicht, aber man muß immer auf alles vorbereitet sein. Ich bin in Kürze wieder da.«

Nachdem er sie verlassen hatte, baute sich Locklear vor Jimmy auf. »Also los? Was geht hier eigentlich vor? Und wag es nicht zu sagen ›wirst du schon sehen‹ .«

»Die Dinge sind nicht, wie sie zu sein scheinen. Komm.«

 

Jimmy und Locklear jagten die Treppe hinauf. Sie erreichten ein Fenster, von dem aus man den Hof überblicken konnte, und betrachteten die Vorbereitungen. Die Begräbnisprozession hatte sich aufgestellt, die rollende Bahre wurde, von einigen handverlesenen Soldaten aus Aruthas Leibwache eskortiert, auf ihren Platz bewegt. Sie wurde von sechs unvergleichlichen, schwarzen Pferden gezogen, die mit schwarzen Federn geschmückt waren und jeweils von einem schwarzgekleideten Stallburschen geführt wurden. Die Soldaten reihten sich zu beiden Seiten der Bahre auf.

Eine Gruppe von acht schwerbewaffneten Kriegern trug den Sarg, in dem Arutha lag. Sie gingen zu einem Rollgerüst, mit dessen Hilfe sie den Sarg nach oben auf die Bahre heben konnten. Langsam, fast ehrfürchtig hievten sie den Prinzen von Krondor auf den schwarzverhüllten Aufbau.

Jimmy und Locklear konnten in den offenen Sarg sehen und den Prinzen zum ersten Mal deutlich erkennen. Der Tradition nach sollte der Sarg bei der Prozession offen bleiben, damit die Bevölkerung den Herrscher ein letztes Mal anschauen konnte. Vor den Stadttoren würde er dann geschlossen und nicht wieder geöffnet werden, abgesehen von einem Mal in der Abgeschiedenheit der Familiengruft. Dort, unter dem Königspalast in Rillanon, würde sich auch Aruthas Familie von ihm verabschieden. Jimmy spürte, wie sich ihm der Hals zusammenschnürte. Er mußte heftig schlucken, um den hartnäckigen Kloß loszuwerden. Er sah, daß man Arutha in seinem Lieblingsgewand aufgebahrt hatte: brauner Samtrock, rotbraune Gamaschen. Dazu hatte man ihm einen grünen Wams angezogen, obwohl er so etwas selten getragen hatte. In seinen Händen lag sein Lieblingsrapier, sein Kopf war unbedeckt. Er schien zu schlafen. Als sich der Wagen langsam außer Sicht schob, bemerkte Jimmy die feinen Samtpantoffeln an den Füßen des Prinzen.

Dann erschien ein Stalljunge, der Aruthas Pferd führte, das hinter der Bahre hergehen sollte, ohne Reiter. Es war ein prächtiger Hengst. Er warf den Kopf zurück und wehrte sich gegen den Stalljungen. Ein zweiter lief hinzu, und gemeinsam brachten die beiden das störrische Tier zur Ruhe. Jimmy kniff die Augen zusammen. Locklear drehte sich genau in dem Moment zu ihm hin und bemerkte die sonderbare Miene. »Was ist?«

»Zum Teufel, irgend etwas stimmt da nicht. Komm, ich will mir noch ein oder zwei Dinge ansehen.«

»Wo?«

Doch Jimmy war schon los und meinte nur: »Beeil dich, wir haben bloß ein paar Minuten Zeit.« Er rannte die Treppe hinunter. Locklear jagte ihm hinterher und stöhnte innerlich.

 

Jimmy verbarg sich in den Schatten beim Stall. »Sieh doch«, sagte er, während er Locklear vorwärtsschob. Locklear tat so, als würde er nur zufällig vorbeibummeln, während das letzte Reittier für die Ehrenwache herausgeführt wurde. Fast die gesamte Garnison würde hinter der Bahre des Prinzen herziehen, doch außerhalb der Stadt würde schließlich nur noch eine Kompanie Fürstlicher Lanzenreiter die Eskorte auf dem Weg nach Salador bilden.

»Hey, Junge, kannst du denn nicht aufpassen? Du stehst im weg!« Locklear mußte zur Seite springen, denn ein Stallknecht kam zwischen zwei Pferden, die er an den Zügeln hielt, hervorgerannt. Beinahe wäre Locklear niedergetrampelt worden. Der Junker schlenderte zurück zu Jimmy und duckte sich hinter der Ecke.

»Ich weiß nicht, was du hier finden wolltest, aber jedenfalls ist es nicht hier.«

»Das habe ich auch erwartet. Komm!« befahl Jimmy und stürmte zurück zum Hauptteil des Palastes.

»Wohin?«

»Wirst du schon sehen.«

Locklear warf Jimmy einen wütenden Blick zu, während sie über den Aufmarschplatz rannten.

Jimmy und Locklear stürmten die Treppen hoch und nahmen bei jedem Schritt zwei Stufen. Als sie das Fenster erreichten, von dem aus man den Hof überblicken konnte, japsten beide nach Luft. Für den Weg vom Stall hierher hatten sie zehn Minuten gebraucht, und die Prozession war gerade dabei, den Palast zu verlassen. Vor der Palasttreppe fuhren Wagen vor, und Diener liefen hinzu und hielten die Türen auf. Der Tradition nach fuhren nur die Mitglieder der fürstlichen Familie mit Wagen, egal, ob sie Blutsverwandte oder angeheiratet waren. Die anderen würden hinter Aruthas Bahre hergehen, um ihren Respekt zu zeigen. Die Prinzessinnen Anita und Alicia kamen herunter und stiegen in den ersten Wagen, Carline und Laurie eilten zum zweiten, wobei der Herzog beinahe hüpfte, so rasch ging er. Direkt nach Carline sprang er in den Wagen und schloß sofort die Vorhänge auf seiner Seite.

Jimmy beobachtete Locklear, der bei Lauries seltsamem Verhalten kaum den Mund wieder zubekam. Da er keinen Anlaß hatte, die Sache zu erklären, blieb Jimmy einfach still.

Gardan nahm seinen Platz an der Spitze der Prozession ein.

Um seine Schultern hing ein schwerer, schwarzer Mantel. Er machte ein Zeichen, und daraufhin begann ein einzelner Trommler, langsam auf eine gedämpfte Trommel zu schlagen. Ohne weiteren Befehl setzte sich die Prozession mit dem vierten Schlag der Trommel in Bewegung. Die Soldaten marschierten schweigend in dicht geschlossenen Gliedern, und die Wagen rollten an. Plötzlich bockte der graue Hengst, und ein dritter Stalljunge mußte kommen, um ihn zu halten. Jimmy schüttelte den Kopf. Er hatte ein vertrautes Gefühl; alle Teile eines seltsamen Puzzles schienen plötzlich zusammenzupassen. Dann breitete sich auf seinem Gesicht langsam ein breites Lächeln aus. Er hatte verstanden.

Locklear hatte mitbekommen, wie sich Jimmys Gesichtsausdruck veränderte. »Was ist?«

»Jetzt weiß ich, was Laurie vorhat. Ich weiß, was los ist.« Er schlug seinem Freund auf die Schulter und sagte: »Komm, wir haben noch viel zu tun und nur noch wenig Zeit.«

Jimmy führte Locklear durch einen geheimen Gang. Im Licht der flackernden Fackel tanzten die Schatten in alle Richtungen. Die beiden Junker trugen Reisekleidung, Waffen, Bündel und Bettzeug. »Bist du sicher, daß dort niemand am Ausgang steht?« fragte Locklear zum fünften Mal.

Ungeduldig entgegnete Jimmy: »Ich habe dir doch gesagt, diesen Ausgang habe ich niemandem gezeigt, nicht einmal dem Prinzen oder Laurie.« Und als wollte er diese Unterlassung rechtfertigen, fügte er hinzu: »Manche Gewohnheiten kann man eben nur schwer ablegen.«

Den ganzen Nachmittag waren sie ihren Pflichten nachgekommen. Nachdem die anderen Junker sich zur Ruhe begeben hatten, waren sie davongeschlichen und hatten hastig ihre Sachen zusammengepackt. Jetzt war es fast Mitternacht.

Als sie an eine steinerne Tür kamen, betätigte Jimmy einen Hebel, und sie hörten ein Klicken. Jimmy löschte die Fackel und lehnte sich mit der Schulter gegen die Tür. Er mußte mehrere Male heftig drücken, dann bewegte sich die Tür widerwillig. Sie krochen durch die kleine Öffnung - von außen sah die Tür aus wie Mauerwerk - und kamen auf der anderen Seite der Mauer um den Aufmarschplatz heraus, auf der Straße, die am nächsten am Palast lag. Ein kleines Stück die Straße hinunter stand ein offensichtlich besetztes Wachhäuschen. Jimmy wollte die Tür zuschieben, doch sie ließ sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Er gab Locklear ein Zeichen, und der jüngere Junker drückte ebenfalls dagegen. Die Tür hielt zunächst stand, dann löste sie sich plötzlich und knallte laut vernehmbar zu. Aus dem Wachhäuschen ertönte eine fragende Stimme: »Hallo, wer da? Bleibt stehen und zeigt euch!«

Ohne zu zögern, rannte Jimmy davon, und Locklear war einen halben Schritt hinter ihm. Keiner der beiden Jungen warf einen Blick zurück, um nachzusehen, ob sie verfolgt wurden, aber sie zogen vorsichtshalber die Köpfe ein, während sie über das Pflaster jagten.

Bald hatten sie sich im Straßengewirr zwischen dem Armenviertel und dem Hafen verirrt. Jimmy blieb stehen und orientierte sich, dann zeigte er in eine Richtung. »Dort lang. Wir müssen uns beeilen. Der Rabe läuft um Mitternacht mit der Flut aus.«

Die beiden Jungen eilten durch die Nacht. Schnell erreichten sie die verrammelten Gebäude am Wasser. Aus dem Hafen hörten sie die Stimmen von Männern, die Befehle riefen, während ein Schiff startklar gemacht wurde.

»Sie legen ab!«, schrie Locklear.

Jimmy antwortete nicht, sondern beschleunigte seine Schritte. Beide Junker erreichten in dem Moment das Ende des Anlegers, als die letzte Leine losgeworfen wurde, und mit einem verzweifelten Sprung erreichten beide die Deckskante des Schiffes, das sich schon vom Kai fortbewegte. Rauhe Hände zogen sie an Bord, und dann standen sie auf dem Deck.

»Also, was soll denn das?« hörten sie jemanden fragen, und im nächsten Augenblick stand Aaron Cook vor ihnen. »Also dann, Jimmy die Hand, bist du so auf eine Schiffsreise aus, daß du dir dafür sogar den Hals brechen würdest?«

Jimmy grinste. »Hallo, Aaron. Ich muß unbedingt mit Hull sprechen.«

Der pockennarbige Mann sah den Junker finster an. »An Bord des Fürstlichen Rahen heißt das immer noch Kapitän Hull, ob man nun Junker des Prinzen ist oder nicht. Ich werde sehen, ob der Kapitän Zeit für dich hat.«

Kurz danach traten die Junker vor den Kapitän, der die beiden mit böser Miene anstarrte und sie mit seinem gesunden Auge musterte. »Habt ihr also unerlaubt eure Posten verlassen?«

»Trevor«, fing Jimmy an, setzte jedoch, als Cook ihn scharf ansah, hinzu: »Kapitän. Wir müssen unbedingt nach Sarth reisen. Und auf der Schiffsliste im Hafenamt haben wir gesehen, daß die Patrouille, die Ihr heute nacht antretet, nach Norden führt.«

»Nun, vielleicht glaubst du, Jimmy die Hand, du müßtest unbedingt die Küste hochfahren, aber dein Rang erlaubt es nun mal nicht, daß du einfach mit einem ›Mit Verlaub‹ an Bord kommst, und das hast du noch nicht einmal gesagt. Und abgesehen davon, schlagen wir trotz des Anschlags im Hafenamt keinen nördlichen, sondern einen westlichen Kurs ein. Das hättest du dir doch denken können, schon allein wegen der Spione. Im Westen, so wurde mir berichtet, lauern Sklavenjäger aus Durbin auf unglückselige Handelsschiffe des Königreichs, außerdem treiben sich dort immer queganische Galeeren herum. Nein, du wirst mit dem Lotsen an Land zurückkehren, wenn wir den letzten Wellenbrecher passiert haben, es sei denn, du lieferst mir einen besseren Grund als nur das reine Vergnügen an einer Reise.« Trotz seiner Sympathie für Jimmy würde er keinen Unsinn an Bord dulden, soviel verriet der Gesichtsausdruck des ehemaligen Schmugglers.

Jimmy sagte: »Wenn ich mit Euch ein Wort unter vier Augen sprechen könnte?«

Hull wechselte einen Blick mit Cook, dann zuckte er mit den Schultern. Jimmy flüsterte lange auf den Kapitän ein. Dann lachte Hull plötzlich laut auf. »Ich glaub', mein Schiff sinkt.«

Einen Moment später trat er zu Aaron Cook heran. »Bringt diese Kerle nach unten. Sobald wir aus dem Hafen heraus sind, werden alle Segel gesetzt. Kurs auf Sarth.«

Cook zögerte einen Augenblick, dann wandte er sich an einen herumstehenden Seemann und befahl ihm, die Jungen unter Deck zu bringen. Als sie verschwunden waren und der Hafenlotse in das Beiboot gestiegen war, rief der Erste Maat alle Mann an Deck und ließ alles Tuch setzen. Er warf einen Blick über die Schulter, wo Kapitän Hull neben dem Steuermann stand, doch der Kapitän lächelte nur in sich hinein.

 

Jimmy und Locklear standen an der Reling und warteten, daß das Boot klargemacht wurde. Trevor Hull trat neben sie. »Seid ihr sicher, daß wir euch nicht bis Sarth bringen sollen?«

Jimmy schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht so gern an Bord eines Fürstlichen Zollschiffs gesehen werden. Das erregt zuviel Aufmerksamkeit. Außerdem liegt hier in der Nähe eine kleine Ortschaft, in der wir Pferde kaufen können. Und kaum einen Tagesritt von dem Dorf entfernt gibt es einen guten Platz zum Lagern. Da können wir jeden beobachten, der vorbeikommt, und wir werden sie leicht entdecken.«

»Zumindest, wenn sie dort nicht schon längst vorbei sind.«

»Sie sind nur einen Tag vor uns aufgebrochen, und sie mußten nachts schlafen, während wir weitergesegelt sind. Wir sind ihnen sicherlich voraus.«

»Also dann, ihr jungen Kerle. Ich wünsche euch den Schutz von Kilian, der, wenn er wohlgesonnen ist, über die Seeleute und andere verwegene Männer wacht. Und den Schutz von Banath, der gleiches für die Diebe, Spieler und Schwachköpfe tut.« Und etwas ernster fügte er hinzu: »Paßt gut auf euch auf, Jungs.« Dann wurde auf sein Zeichen hin das Boot heruntergelassen.

Es war noch diesig, denn die Sonne hatte den Nebel vor der Küste noch nicht aufgelöst. Die Ruderer pullten angestrengt, und das Beiboot schob sich auf den Strand zu. Als der Rumpf des Bootes auf den Sand lief, sprangen Jimmy und Locklear heraus und waren an Land.

 

Der Wirt hatte ihnen die Pferde zunächst gar nicht verkaufen wollen, doch Jimmys energisches Auftreten, die Art, wie er sein Schwert trug, und nicht zuletzt reichlich Gold ließen ihn seine Meinung ändern. Als die Sonne schließlich den Wald im Osten von Langweg erhellte, saßen die beiden jungen Männer gut ausgerüstet auf ihren Pferden und ritten zu der Straße, die von Sarth nach Questors Sicht führte.

Gegen Mittag waren sie an der richtigen Stelle, einer kleinen Erhebung in der Straße. Nördlich davon lag eine Böschung, die mit dichtem Unterholz bewachsen war. Dort konnte niemand durch. Im Westen senkte sich das Land steil zum Strand hinunter. Von ihrem Aussichtspunkt konnten Jimmy und Locklear jeden Reisenden entdecken, der die Straße entlangritt oder vom Strand hochkam.

Sie entfachten ein kleines Feuer gegen die Feuchtigkeit, ließen sich nieder und warteten.

 

In den drei folgenden Tagen waren sie zweimal in Gefahr geraten. Beim ersten Mal hatte eine Bande von Söldnern von Questors Sicht nach Süden gewollt. Doch die Horde hatte vor der Entschlossenheit der beiden jungen Männer kapituliert und sie in Ruhe gelassen, weil sie sowieso nichts von Wert bei sich trugen. Ein Mann hatte eines der Pferde stehlen wollen, doch Jimmys Schnelligkeit mit dem Rapier war ihm eine Warnung gewesen. Die Bande war lieber von dannen gezogen, als wegen einer so wenig lohnenden Beute Blut zu vergießen.

Das zweite Mal hatten beide in größeren Schwierigkeiten gesteckt, als sie Seite an Seite mit gezogenen Waffen ihre Pferde gegen drei übelaussehende Banditen verteidigen mußten. Wäre es nur ein Straßenräuber mehr gewesen, hätten die Jungen ihr Leben lassen müssen, dessen war sich Jimmy sicher. Doch schließlich waren die Männer vor den Geräuschen sich nähernder Reiter geflohen. Diese Reiter erwiesen sich als Patrouille der Garnison von Questors Sicht.

Die Soldaten hatten Jimmy und Locklear ausgefragt und ihre Geschichte geglaubt. Die beiden gaben vor, als Söhne eines niedrigen Adligen zu reisen, der sich an dieser Stelle mit ihnen treffen wollte. Von hier aus hatten sie dann vor, nach Süden zu reiten und sich der Begräbnisprozession des Prinzen anzuschließen. Der Hauptmann der Truppe hatte ihnen eine sichere Reise gewünscht.

Am späten Nachmittag des vierten Tages nach ihrer Ankunft erspähte Jimmy drei Reiter, die vom Strand herankamen. Er beobachtete sie eine Weile, dann sagte er: »Da sind sie!«

Rasch stiegen Jimmy und Locklear auf die Pferde und ritten durch einen Durchlaß in der Klippe hinunter zum Strand. Dort hielten sie an, und während sie auf die sich nähernden Reiter warteten, scharrten ihre Tiere im Sand.

Die drei waren jetzt fast schon zu erkennen, verlangsamten ihr Tempo und ritten dann weiter, wobei sie die Jungen nicht aus den Augen ließen. Die Reiter sahen müde und staubig aus, ihren Waffen und ihrer Rüstung nach wie Söldner. Alle trugen Barte, obwohl die der beiden Dunkelhaarigen noch kurz waren. Der erste Reiter fluchte, als er die beiden Jungen erkannte. Der zweite schüttelte nur ungläubig den Kopf.

Der dritte Reiter trieb sein Pferd an den beiden anderen vorbei und blieb vor den zwei Junkern stehen. »Wie seid ihr ...?«

Locklear bekam den Mund nicht mehr zu und war stumm vor Erstaunen. Bei allem, was ihm der Erste Junker erklärt hatte, das hier hatte Jimmy nicht verraten. Jimmy grinste. »Das ist eine etwas längere Geschichte. Auf der Landspitze haben wir ein Lager aufgeschlagen, falls Ihr ein wenig Ruhe braucht, auch wenn es direkt an der Straße liegt.«

Der Mann kratzte sich an seinem zwei Wochen alten Bart. »Bleiben wir also hier. Es hat wenig Sinn, heute noch viel weiter reisen zu wollen.«

Jimmys Grinsen wurde noch breiter. »Ich muß schon sagen, Ihr seid die lebendigste Leiche, die ich jemals gesehen habe, und ich habe schon einige gesehen.«

Arutha erwiderte das Grinsen. Er wandte sich zu Laurie und Roald um und sagte: »Kommt, gönnen wir den Pferden eine Rast, und währenddessen können wir erfahren, wie uns diese jungen Gauner auf die Schliche gekommen sind.«

Das Feuer brannte freundlich vor sich hin, und die Sonne versank langsam im Meer. Sie lagen um das Feuer herum, nur Roald stand und ließ seinen Blick über die Straße schweifen. »Es waren eine Menge kleiner Anzeichen«, sagte Jimmy. »Die beiden Prinzessinnen schienen eher beunruhigt als in Trauer zu sein. Und als sie uns unbedingt von der Prozession forthalten wollten, wurde ich mißtrauisch.«

Locklear fügte hinzu: »Daraufhin ich gekommen.«

Jimmy warf Locklear einen verärgerten Blick zu: Das war seine Geschichte, und da sollte er sich gefälligst raushalten. »Ja, das stimmt. Er meinte, wir würden sozusagen ausgesperrt. Und jetzt weiß ich auch warum. Ich hätte den falschen Herzog auf dem Wagen sofort erkannt. Und dann hätte ich sofort gewußt, daß Ihr auf dem Weg nach Norden seid, um mit Murmandamus abzurechnen.«

Laurie sagte: »Genau deshalb solltest du die Prozession auch nicht begleiten.«

Roald sagte: »Genau die Idee steckte dahinter.«

Jimmy spürte einen Stich. »Aber Ihr hättet mir doch vertrauen können.«

Arutha wirkte halb amüsiert und halb verblüfft. »Es ging nicht darum, daß wir dir nicht vertrauen, Jimmy. Ich wollte das hier nicht. Ich wollte dich nicht dabeihaben.« Und mit einem Seufzer fügte er spöttelnd hinzu: »Und dafür habe ich jetzt zwei von euch am Hals.«

Locklear sah Jimmy besorgt an, doch der Klang von Jimmys Stimme beruhigte ihn: »Nun, manchmal leisten sich selbst Prinzen ein Fehlurteil. Könnt Ihr Euch noch daran erinnern, in welchen Hinterhalt Ihr geraten wärt, wenn ich die Falle im Moraelin nicht genauestens unter die Lupe genommen hätte.«

Arutha gab sich geschlagen und nickte. »Also hast du gemerkt, daß etwas Seltsames vor sich geht, und dann hast du beobachtet, wie Laurie und Roald nach Norden aufbrachen, aber wie bist du darauf gekommen, daß ich noch am Leben bin.«

Jimmy lachte. »Nun, zum ersten wurde der graue Hengst in der Prozession mitgeführt, und Euer Rotfuchs fehlte im Stall, Ihr habt den Grauen nicht besonders gemocht, ich weiß noch, wie Ihr das immer gesagt habt.«

Arutha nickte. »Er ist zu störrisch. Und weiter?«

»Ich bin drauf gekommen, als wir beobachteten, wie der Leichnam herausgebracht wurde. Wenn man Euch schon Eure liebsten Kleider anzog, warum dann nicht auch Eure liebsten Stiefel.« Er deutete auf das Paar, das der Prinz trug. »Aber an den Füßen des Leichnams sah ich nur Pantoffeln. Und das hatte einen Grund: Die Stiefel, die der Assassine im Palast getragen hatte, waren voller Blut und Schlamm aus den Abwasserkanälen. Jedenfalls hat derjenige, der die Leiche angezogen hat, wahrscheinlich einfach nach anderen Schuhen gesucht, anstatt die des Meuchelmörders zu putzen; und da er keine finden konnte, hat er ihm eben diese Pantoffeln angezogen. Als ich das sah, hatte ich das Rätsel gelöst. Ihr hattet den Meuchelmörder nicht verbrennen lassen, sondern nur sein Herz. Und Nathan hat die Leiche mit einem Zauber bedeckt, damit sie sich frisch hält.«

»Ich wußte zwar noch nicht genau, was ich mit ihr anfangen sollte, doch ich hatte eine Ahnung, sie könnte von Nutzen sein. Dann erfolgte plötzlich dieser Anschlag im Tempel. Die Verwundung durch den Dolchstoß der Assassine war keineswegs vorgetäuscht« - er rieb sich abwesend die verwundete Seite -, »doch es war keine ernsthafte Verletzung.«

Laurie sagte: »Ha! Nur einen Zoll höher und zwei nach rechts, und wir hätten ein ziemlich echtes Begräbnis gehabt.«

»In der ersten Nacht ließen wir, also Nathan, Gardan, Volney, Laurie und ich, nichts verlauten, während wir uns überlegten, was zu tun sei«, erzählte Arutha weiter. »Ich entschied mich, den Toten zu spielen. Volney hielt die Begräbnisprozession solange zurück, bis die Adligen aus der Umgebung eingetroffen waren. Auf diese Weise hatte ich Zeit, mich zu erholen, bis ich wieder reiten konnte. Ich wollte aus der Stadt verschwinden, nur sollte das niemand merken. Wenn Murmandamus mich für tot hält, sucht er auch nicht mehr nach mir. Und hiermit« - er hielt den Talisman hoch, den ihm der ishapianische Abt geschenkt hatte - »wird er mich auch mit magischen Mitteln nicht finden. Vielleicht läßt er sich zu vorschnellen Handlungen hinreißen.«

Laurie fragte: »Und wie seid ihr beiden hierhergekommen? Ihr könnt uns doch nicht auf der Straße überholt haben.«

»Ich habe Trevor Hull überredet, uns hierherzubringen«, entgegnete Jimmy.

Arutha fragte: »Du hast es ihm erzählt?«

»Aber nur ihm. Ansonsten weiß nicht einmal Cook Bescheid.«

Roald sagte: »Trotzdem sind es schon zu viele für ein Geheimnis.«

Locklear sagte: »Aber jedem, der es weiß, kann man schließlich vertrauen, Sir.«

»Das ist nicht der Punkt«, mischte sich Laurie ein. »Carline und Anita wissen es, genauso Gardan, Volney und Nathan. Doch selbst deLacy und Valdis haben es nicht erfahren. Der König wird es auch nicht eher wissen, bis Carline es ihm unter vier Augen erzählt, wenn sie Rillanon erreicht hat. Nur diese Leute wissen es.«

»Was ist mit Martin?« fragte Jimmy.

»Laurie hat ihm eine Nachricht geschickt. Wir werden ihn in Ylith treffen«, antwortete Arutha.

»Das ist riskant«, meinte Jimmy.

Laurie sagte: »Niemand außer uns könnte diese Nachricht verstehen. Darin stand nur ›Zum Nordland. Komm schnell!‹ . Und unterschrieben war sie mit ›Arthur‹ . Niemand soll wissen, daß Arutha noch lebt, doch Martin wird es schon begreifen.«

Jimmy hatte verstanden. »Nur die, die hier versammelt sind, kennen das ›Nordland‹ , jene Schenke in Ylith, in der Martin mit diesem Longly einen Ringkampf veranstaltet hat.«

»Wer ist denn Arthur?« fragte Locklear.

»Seine Hoheit«, sagte Roald. »Das ist der Name, den er auf seiner letzten Reise trug.«

»Und ich habe ihn auch benutzt, als ich mit Martin und Amos nach Krondor kam.«

Jimmy zog ein nachdenkliches Gesicht. »Jetzt reiten wir schon zum zweiten Mal nach Norden, und zum zweiten Mal wünschte ich, Amos Trask wäre bei uns.«

Arutha sagte: »Nun, das ist er leider nicht. Laßt uns jetzt schlafen gehen. Wir haben einen langen Ritt vor uns, und ich muß noch entscheiden, was wir mit diesen beiden jungen Gaunern machen.«

Jimmy wickelte sich in seine Decke ein. Roald hielt die erste Wache. Und dann, zum ersten Mal seit Wochen, konnte Jimmy, frei von allem Kummer, beruhigt einschlafen.